Keep calm and enjoy the traffic
Allein- oder Teamgang?
Wer braucht schon überteuerte Überlebenstrainings, wenn man seinen personalisierten Intensivkurs unter realistischen Bedingungen auf der Straße gleich mehrmals täglich absolvieren kann. Psychische und physische Stressmomente sind am Asphalt vorprogrammiert und führen vor allem Neuankömmlinge im Straßenverkehr Nouakchotts an ihre persönlichen Grenzen. Multiple Aufgabenstellungen sind allein oder im Team zu bewältigen. Tasks für den Alleingang: Umfahrung von zentimetertiefen Schlaglöchern, offenen Gullys, in der Mitte fahrenden Autos, Bettlern, Ölfässern, Eselskarren, Baumstämmen, Betonhügel. Teamaufgaben - nach dem Motto: Allein ist man stark, gemeinsam unschlagbar: kollektives Hupen, damit sich bei grüner Ampel die Blechlawine in Bewegung setzt, partizipativ arrangierte Ausweichmanöver.
Ein Ausgleich zu diesen Stressmomenten bietet der Autostau, wo Zeit zum reflektierenden Sein gewährleistet ist. Das Ziel des Trainings soll nicht der Sieg im Kampf gegen andere Verkehrsteilnehmer sein. Viel mehr geht es um die Erfahrung, sich als systematischer Teil im Chaos wahrzunehmen und die daraus resultierenden Herausforderungen als persönliche Wachstumschancen anzunehmen.
Wissen wie
Mit Willenskraft und psychischer Stärke begebe ich mich tagein, tagaus in Nouakchotts rollendes Blechspektakel. Um schnelle Reaktionen in Notsituationen – überflutete Straßen, Dunkelheit und so - zu gewährleisten, ist es ratsam, zumindest die Hauptstrecken in- und auswendig zu kennen. Wo sind die Schlaglöcher? Wo Sandhügel? Steine? Bei welcher Ampel bleibt man tatsächlich stehen und welche wird trotz ihrer Funktionalität, aber dank eines ungeschriebenen Gesetzes dauerhaft ignoriert?
Soweit das Auge reicht, man sieht sie überall: Karren, die mindestens fünf Mal am Schrottplatz reanimiert wurden, bevor sie das gleißende Sonnenlicht am Asphalt wiederentdeckten. Aufgrund der Reanimationshistorie funktionieren Blinker, Bremsen und sowieso jedes Gadget (im, am oder um das Auto rum) nicht unbedingt. Falls doch funktionstüchtig, kommen sie nicht zwingend zum Einsatz. Oder sie finden Verwendung, aber anders als wir es kennen: Die Aktivierung des linken Blinkers reflektiert nicht zwingend den Willen des Linksabbiegens.
Selbiges Denken gilt es im Straßenverkehr anzuwenden:
1. Nur weil deine Ampel grün ist, heißt das noch lange nicht, dass du tatsächlich blindlings fahren sollst – außer du suchst das suizidale Abenteuer in der Kreuzung.
2. Apropos Kreuzung: Fürs Abbiegen spielt es keine Rolle, in welche Spur man sich einordnet. Rechtsabbieger fädeln sich links ein, auch wenn sie bei dem Versuch, auf die andere Seite zu gelangen, den gesamten Verkehr zum Stillstand bringen.
3. Eine zweispurig konzipierte Straße kann und wird bei Bedarf (v. a. bei Überhol- und Umfahrmanövern) zu einer drei- bis vierspurigen Bahn ausgeweitet. Links, rechts und eventuell auch mittig ein-, aus- und bereits parkende Autos sind bei dieser imaginären Fahrbahnerweiterung nicht einberechnet.
Szenen vom Chaos im Straßenverkehr
Wer System ins Chaos bringen will, verliert. Das lernt man schnell. In der Hektik des unaufhörlich rollenden Schrottplatzes gibt es keine Zeit, um an System zu denken. DIE ultimative Waffe in diesem Blechdschungel: deine Hupe. Ist sie kaputt, bist du verloren. Sie weist auf deine Existenz, auf deinen Überlebenswillen hin und bezeugt im Falle korrekter Anwendung, dass du dich vollends in die lokale Straßenkommunikation integriert hast.
Richtig spaßig wird es am Nachmittag, nach Dienstschluss, wenn das Auto in der sengenden Hitze zum fahrenden Death Valley mutiert. Am Lenkrad verbrennt man sich die Finger, am Sitz den Rücken als auch den Allerwertesten. Meine metallenen Ohrringe sind bei solchen Temperaturen potenzielle Verursacher von thermischen Unfällen. Dinger also lieber abnehmen und dann erst losfahren. Auf der Mitte des Weges blüht der unvermeidliche Engpass, der in einen zäh fließenden Verkehr und der wiederum in einen unausweichlichen Stau mündet. Besagter Moment des Stressabbaus ist gekommen.
Szenen eines Stillstands - meine Lippen können sich ein Lächeln trotz der widrigen Umstände in der Hitze nicht verkneifen: Die Scheibenwischer meines Gegenübers auf der anderen Straßenseite wischen enthusiastisch, aber grundlos in der Luft (und nicht am Glas), der Gummi flattert im Rhythmus mit. Das unterste Ampellicht kann sich nicht entscheiden, ob es grün oder blau leuchten soll. Es kommt mehr einer schlecht sichtbaren Discokugel gleich, tatsächlich ist es aber ein verkehrsuntauglicher Entscheidungshelfer. Zwei Mezgharous, die kontrollierende Straßenpolizei, versuchen indes mittig in der Kreuzung System in das Chaos zu bringen. Unmöglich. Außerdem: Kein Nummernschild ist gleich. Mit und ohne Flagge, mit und ohne Landeserwähnung, mit und ohne Rechtschreibfehler. Mein Favorit direkt vor mir: Nouakchtt City. Wer braucht schon das „o“? Dafür mit Landesname, Flagge und Landumriss.
Ein paar Wagen vor mir bahnt sich eine Karawane ihren Weg durch den Straßenverkehr, auch Kamele haben noch ihre Daseinsberechtigung in dieser Blechwelt. Weit rechts vorne stirbt ein Vehikel ab, sicherheitshalber wird 10 cm dahinter ein grellgelber Plastikkanister als Warndreieck aufgestellt – ob es zu einem weiteren Pkw-Reanimationsversuch kommt und es diesen überlebt, werde ich nie erfahren. Der Moment des Stressabbaus ist vorbei, aus den Stehzeugen werden wieder brauchbare Fahrzeuge und das Chaos rollt mich nach Hause.
#LifeIsAnAdventure
Schön geschrieben. Sehr schön …. und informativ !
Ich bräuchte dann irgendwann einmal einen Vorwortschreiber für den 3. Bd. des Urkundenbuches. Irgendwann …
Papsch